Solingen, 02. Juni 2017 –
Die meisten Azubi-Bewerber können sich aktuell ihren Betrieb aussuchen. Und die Unternehmen? Viele von ihnen reagieren überhaupt nicht auf Bewerbungen oder vergraulen die Kandidaten mit wenig durchdachten Anforderungen. Zu diesem Ergebnis kommt die Studie “Azubi-Recruiting Trends”. Für die von Prof. Dr. Christoph Beck begleitete bundesweite Befragung zur dualen Ausbildung hat der Solinger Ausbildungsspezialist u-form Testsysteme in diesem Jahr 2.635 Azubi-Bewerber und Auszubildende, 903 Ausbildungsverantwortliche und 150 Eltern befragt.
Betriebe als Bewerber
Noch immer fallen zahlreiche Bewerberinnen und Bewerber durchs Raster der Ausbildungsbetriebe. Vor allem Schülerinnen und Schüler mit schlechten Noten müssen zum Teil hart um einen Ausbildungsplatz kämpfen. Die Studie “Azubi-Recruiting Trends 2017” beleuchtet eine ganz andere Seite des Ausbildungsmarkts: Für einen großen Teil ist die Bewerbung zum Home Run geworden. Azubis wählen sich den Ausbildungsbetrieb aus, bewerben müssen sich die Betriebe.
Vom Angebots- zum Nachfragemarkt
In einem Nachfragemarkt bestimmen die Nachfrager die Regeln. Die Studie fördert zahlreiche Belege dafür zutage, dass sich die duale Ausbildung in einen Nachfragemarkt verwandelt hat. So schreiben heute 46,4 Prozent der Azubi-Bewerber weniger als sechs Bewerbungen, über 60 Prozent erhalten mehr als ein Ausbildungsplatzangebot. Die in den einzelnen Phasen des Bewerbungsprozesses gezeigte Verbindlichkeit der Kandidaten wird geringer. Aktuell erscheinen über 23 Prozent der eingeladenen Bewerber nicht zum Vorstellungsgespräch. Jeder zehnte Azubi tritt die Ausbildung nicht an, obwohl er einen Vertrag unterschrieben hat. Dazu tragen die langen Bewerbungsfristen bei: 54,8 Prozent der Betriebe starten die Bewerbung um ihre Ausbildungsplätze neun Monate vor Ausbildungsbeginn oder noch früher. Angesichts von Alternativen und des langen Vorlaufs kommt der ein oder andere da ins Wanken.
Anforderungsprofile mit unerwünschten Nebenwirkungen
Passen Bewerberkommunikation und Auswahlprozesse noch zu dieser Lage? Zunächst fällt auf, dass für einen sehr großen Teil der Azubi-Bewerber die Bewerbung einem “Gruß ans Nirwana” gleichkommt. 45,4 Prozent erhalten keine Rückmeldungen. Betriebe sollten in einem Nachfragemarkt zudem besonders behutsam mit Forderungen umgehen, die sie an die Bewerber stellen. Das Gegenteil ist der Fall: Ausbildungsunternehmen nehmen ihre eigenen Anforderungsprofile nicht ganz ernst. Bei 61,4 Prozent der befragten Betriebe müssen “nicht alle” Anforderungen erfüllt sein, damit sie eine Bewerbung berücksichtigen. Azubis nehmen die in den Profilen beschriebenen Kriterien genauer: 19,1 Prozent bewerben sich nur, wenn sie alle, 29,7 Prozent wenn sie vier von fünf Anforderungen erfüllen. Das heißt, dass einem großen Teil der Ausbildungsbetriebe derzeit sehr viele potenzielle Bewerber verloren gehen. Aussortiert werden dabei nicht die “falschen Bewerber”, sondern solche, die genauer hinschauen. “Betriebe sollten sich daher die Frage stellen, ob klassische Anforderungsprofile noch zeitgemäß sind – und sich von Azubi-Wunschbildern wie dem ‘Fachinformatiker mit guten Deutschnoten’ verabschieden”, sagt Felicia Ullrich, Geschäftsführerin von u-form Testsysteme und Initiatorin der Studie.
Punkten mit Sympathie und Schnelligkeit
Punkten könnten Ausbildungsbetriebe vor allem mit Gelegenheiten zum persönlichen Kontakt. 74,5 Prozent der Azubis finden Praktika “wichtig” oder “sehr wichtig”, bei Probearbeiten sind es 71,1 Prozent. Dagegen setzen nur 50,8 Prozent der Ausbildungsbetriebe Praktika “sehr häufig” oder “häufig” ein, Probearbeiten bieten nur 30,8 Prozent der Ausbildungsbetriebe an. Überzeugt wird also offline, worauf die Tatsache hinweist, dass “die gute Atmosphäre” im Bewerbungsgespräch für 53,8 Prozent der Azubis den “letzten Kick” für die Wahl des Ausbildungsbetriebs gibt. Online informieren sich die Azubis vor allem per Suchmaschine (59,4% nutzen sie “häufig” oder “sehr häufig”) oder Karrierewebsite (54,8%). Weit abgeschlagen sind wie in den Vorjahren Social Media-Kanäle wie Snapchat oder Youtube (22,7%).
Smartphone am Ausbildungsplatz? Ist egal.
“Die Hypothese, man könne die ‘Generation Snapchat’ vor allem auf Snapchat für die duale Ausbildung gewinnen, stellt also eine allzu einfache Ableitung dar. Zitronenfalter falten ja auch keine Zitronen”, sagt Prof. Dr. Christoph Beck. Als ebenso falsch erweist sich die weit verbreitete Annahme, Azubis und ihre Smartphones seien untrennbar miteinander verbunden. 61,9 Prozent der Azubis betrachten es nicht als Argument für einen Ausbildungsbetrieb, wenn sie ihr privates Smartphone während der Arbeit benutzen dürfen, und 71,2 Prozent geben Ausbildungsbetrieben keine Pluspunkte, die ihnen ein mobiles Endgerät spendieren. Aus der 2016er-Studie ist bekannt, dass Azubi-Bewerber in dieser Hinsicht sinnvolle Zusatzausbildungen bevorzugen.
Eltern – eine schwierige Zielgruppe
Erstmals wurden 2017 auch 150 Eltern in Live-Interviews auf der Messe “Einstieg” in Köln interviewt. Ein großer Teil zeigte eine positive Einstellung zum eigenen Beruf, was die online befragten Azubis im Hinblick auf die eigenen Eltern ebenfalls so sehen: 44,8 Prozent von ihnen stimmen der Aussage zu, der Beruf der Eltern scheine diesen Spaß zu machen. Der positive Blick überträgt sich jedoch nicht in eine Vorbildfunktion der Eltern: Höchstens jeder zehnte Azubi fühlt sich von der Berufs- oder Arbeitgeberwahl der Mutter oder des Vaters inspiriert. Eltern machen trotz der generellen Zufriedenheit durchaus Defizite im eigenen Berufsleben aus und wünschen sich für die Kinder etwas Besseres. Die Folge: Die Ansprüche an die Berufswahl des Nachwuchses steigen – und mit ihnen die elterliche Unsicherheit beim Thema Ausbildung.